{Rezension} Die Straße der Geschichtenerzähler | Kamila Shamsie

16 Apr

Die Straße der Geschichtenerzähler

Autor: Kamila Shamsie
Titel: Die Straße der Geschichtenerzähler
(OT: A god in every stone)
Seitenzahl: 384 Seiten
Verlag: Berlin Verlag
ISBN: 978-3-8270-1228-9
Veröffentlichung: 30. März 2015
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“Ihr Vater, ein Mann ohne Söhne, hatte sein Bedauern über diesen Mangel in die entschlossene Absicht verwandelt, seine Tochter dazu anzuspornen, all ihre Geschlechtsgenossinnen zu überflügeln; schon früh herrschte zwischen ihnen eine Art Übereinkunft, dass sie ihm sowohl Sohn als auch Tochter sein würde, weiblich in ihren Umgangsformen, dabei aber männlich, was ihren Verstand betraf.” (S.20)

Die Autorin dieses Romans, Kamila Shamsie, lebt in London und Pakistan und dies sind auch die überwiegenden Schauplätze der Geschichte. Die Handlung spielt von Anfang bis Mitte des vorigen Jahrhunderts.
Vivian Rose Spencer wächst privilegiert in London auf. Ihr Vater, der lieber einen Sohn als eine Tochter gehabt hätte, erzieht Vivian nach damaligen Maßstäben recht frei und ermutigt sie zur Selbständigkeit.
So kommt es, dass die junge Archäologin nach ihrem Studium alleine zu Ausgrabungen nach Labraunda - auf dem Gebiet der heutigen Türkei - reisen darf.
Dort arbeitet Vivian unter anderem mit Tahsin Bey zusammen, einem Türken mit armenischen Wurzeln.
Zwischen den beiden entwickelt sich eine zarte Liebesgeschichte, die jedoch alsbald durch den Ausbruch des ersten Weltkriegs jäh unterbrochen wird. Da die Türkei plötzlich Feindesland ist, kehrt Vivian nach London zurück, wo sie als freiwillige Krankenschwester arbeitet. 

“- Wie ist es wirklich? Gegen die Deutschen zu kämpfen?
- Gehen Sie jetzt schlafen, Lance-Naik. Träumen Sie von Peschawar. Das ist ein Befehl. Die Antworten auf ihre Fragen erhalten Sie morgen, in Ypern.” (Seite 65)

Zeitgleich wird ein weiterer Charakter in den Roman eingeführt. Qayyum Gul aus Peschawar. Dieser kämpft für die Briten als Teil einer britisch-indischen Armee. Er ist stolz, zu dieser Armee zu gehören und fängt erst allmählich an, seine Rolle als Soldat für eine fremde Macht zu hinterfragen.
Der dritte wichtige Protagonist ist Najeeb Gul. Najeeb ist der Bruder Qayyums. Er bewundert und verehrt seinen Bruder, teilt aber nicht seine wachsende Abneigung gegen die Engländer. 

“Najeeb schien ungeheuer beeindruckt, und Qayyum hätte gern etwas gesagt, um die ehrfürchtige Bewunderung für die Großzügigkeit der Engländer etwas zu dämpfen, die aus der Miene seines Bruders sprach.” (S. 138)

Als Vivian, erschöpft von ihrer Tätigkeit als Krankenschwester, eine Auszeit benötigt, reist sie nach Peschawar. Dort möchte sie nach einem antiken Silberreif suchen. Von diesem hatte ihr Tahsin Bey erzählt. Dieser Reif gehörte einst Skylax, der ihn als Belohnung für seine Dienste von einem Herrscher erhielt, gegen den er sich später wandte, um sich auf die Seite seines eigenen Volkes zu stellen. Der Stirnreif und die Geschichte des Skylax wird damit zum Sinnbild der späteren Geschehnisse in Britisch Indien.
In Peschawar laufen nun die Fäden der drei Handlungsstränge um Vivian, Najeeb und Qayyum zusammen.
Jede Figur durchlebt dabei ihre eigene Metamorphose vor dem Hintergrund der geschichtlichen Entwicklungen.
Anhand von Vivian ist die aufkommende Emanzipation nachzuvollziehen.
Vivians Mutter entspricht noch dem traditionellen Frauenbild. Jedoch merkt man schon hier, dass auch diese Frauen bereits subtil Fäden zu ziehen wussten, wenn es darauf ankam.
Vivian benötigt diese Zurückhaltung nicht mehr. Sie führt ein weitgehend selbstbestimmtes Leben als Archäologin und Dozentin. Wenn Vivian - teilweise selbst durch eine Burka verhüllt - mit den Frauen Peschawars zusammentrifft oder auf die dort ansässigen Männer, wird offensichtlich, wie unterschiedlich Frauenbilder in den verschiedenen Gesellschaften sein können.

Währenddessen durchlebt Qayyum eine politische Verwandlung. Vom treuen Gefolgsmann der Engländer verwandelt er sich in einen Freiheitskämpfer.
Najeeb hingegen wird in den Jahren erwachsen. Durch das Zusammentreffen mit Vivian inspiriert, entschließt er sich, sein historisches Interesse beruflich weiter zu verfolgen und arbeitet schließlich für die Briten.

Meine Meinung:

Der Roman ‘Die Straße der Geschichtenerzähler’ trägt einen Titel, der neugierig macht. Gerne habe ich mich auf diese Straße führen lassen. Die Autorin lässt das Peschawar der damaligen Zeit durch kleine Bemerkungen lebendig werden. Etwas Rosenduft hier, etwas Obstbaum und saftiges Grün dort und schon ist man mitten auf der Straße der Geschichtenerzähler und taucht in das wimmelnde Leben dieser Großstadt ein.
So lebendig Kamila Shamsie die Kulisse gestaltet, so schnörkellos erzählt sie die Geschichten der Protagonisten. Schlicht, bisweilen fast kühl und sachlich, wird der jeweilige Werdegang der drei Hauptcharaktere beschrieben. Als Leser wahre ich so immer eine gewisse Distanz.
In anderen Dingen ist die Sprache dagegen bildreich und poetisch. Wenn Shamsie schreibt, dass sich Qayyum und sein Vater »über Kontinente hinweg die Hände reichen« als Qayyum einen von seinem Vater geschriebenen Brief erhält (S. 144), dann merkt man, wie sehr es die Autorin versteht, Worte einzusetzen, um Effekte zu erzielen.
Ich denke, dieses Buch kann getrost zu den etwas anspruchsvolleren gezählt werden. Nicht nur thematisch, auch die Erzählstruktur ist nicht immer leicht zugänglich.
Auch schadet es ganz sicher nicht, wenn man entweder in Geschichte besonders bewandert ist, oder sich aber schnell per Internet einige Hintergrundinformationen beschafft. Die Geschichte Indiens/Pakistans, die Hintergründe des ersten Weltkrieges und nicht zuletzt das Wissen um die Grenzverläufe der damaligen Zeit haben mir das Lesen erheblich erleichtert.
Bisweilen stolperte ich über den einen oder anderen Ausdruck, der nicht wirklich erklärt wurde und den man sich dann erschließen musste. Ein Glossar, in dem beispielsweise Lance-Naik, Sepoy und andere indische Militärränge erläutert würden, hätte ich als sehr hilfreich empfunden.
Auch an den ungewöhnlichen Stil der direkten Rede, musste ich mich erst gewöhnen. Die wörtliche Rede wird durch einen Spiegelstrich gekennzeichnet. Die üblichen An- und Abführungsstriche hätten für meinen Lesefluss Wunder bewirkt.

Insgesamt habe ich diesen Roman deutlich langsamer gelesen, als üblich. Dennoch war ich jederzeit wieder bereit, zu dem Buch zu greifen. Die Geschichte ist gut erzählt. Ich bin immer wieder gerne in die Straße der Geschichtenerzähler zurück gekehrt und wollte wissen, wie die Leben von Vivian, Najeeb und Qayyum sich entwickeln.
Eine Warnung jedoch an alle, die dem Text auf der Rückseite des Buches Glauben schenken: ich weiß nicht, welchen Roman der Verfasser dieses Textes gelesen hatte. Aber es muss ganz sicher ein anderes Werk sein. Denn wer die »Geschichte einer großen Liebe« erwartet, der wartet vergeblich.

Wer sich auch ohne große Liebesgeschichte auf ein etwas anspruchsvolleres Buch einlassen kann, der ist hier genau richtig und wird mit einer schönen Geschichte in historischem Rahmen und exotischer Kulisse in der Straße der Geschichtenerzähler empfangen.

Rana

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