Weihnachtsgeschichte: Schlitten auf dem Radar

24 Dez

Rentierschlitten

Die Menschen wissen überhaupt nicht, wie viel Vorbereitungen für ein reibungsloses Weihnachtsfest nötig sind.
Sicher, sie denken, sie wüssten es. Sie fangen Ende November an, ihre Wohnungen festlich zu schmücken. Was - nebenbei bemerkt - sehr wichtig ist, denn sonst hätte der Rentierschlitten richtige Schwierigkeiten, die Häuser zu finden, die es zu beliefern gilt.
In früheren Zeiten gab es viel mehr …. - sagen wir mal - … unangenehme Zwischenfälle, weil Häuser durch Kerzen und Öllampen einfach nur unzureichend beleuchtet waren.
Aber davon ahnen die Menschen natürlich nichts. Sie denken, sie müssten die Häuser schmücken, weil es hübsch aussieht.

Genauso wenig ahnen die Menschen, wie viel Stress die Vorweihnachtszeit wirklich bedeutet. Für all die Weihnachtswichtel, die die Geschenke zusammenstellen und verpacken müssen. Für den Weihnachtsmann, der die Logistik überwachen muss. Und nicht zuletzt für die Rentiere, die schon Wochen vorher Routen probehalber abfahren, ihr Konditionstraining intensivieren und das Fahrsicherheitstraining absolvieren müssen.

Und ausgerechnet beim letzten Fahrsicherheitstraining kurz vor Weihnachten passierte es. Bei der Übung eines Landemanövers rutschte Rudolph, das allseits bekannte rotnasige Rentier, aus und verstauchte sich alle vier Beine! Auch die leuchtende Nase glomm nur noch ganz schwach. Kurz gesagt: Rudolph konnte nicht arbeiten. Er war rekonvaleszent und musste sich erholen.

Nun ist Rudolph natürlich nicht das einzige Rentier in Diensten des Weihnachtsmannes. Aber er ist das wichtigste. Und wenn er ausfällt, dann bricht das ganze System zusammen. Rudolph ist schließlich das Leitren. Nur er kennt alle Routen auswendig und weiß, wie man sich verhalten muss, um nicht mit Flugzeugen, Hubschraubern und Heißluftballons zu kollidieren. Selbst einem Zeppelin waren sie schon begegnet! Natürlich war die Flotte der Weihnachtsschlitten für den Menschen unsichtbar. Aber dennoch waren sie ja am selben Himmel unterwegs, wie alle anderen auch. Nur Vögel schienen die Schlitten seltsamerweise wahrzunehmen, denn die wichen den durch die Nacht sausenden Rentieren aus.
Nun musste diese wichtige Leitren-Stelle ganz schnell neu besetzt werden und einer von Rudolphs Assistenten einspringen. Vom Krankenbett aus - und mit nur schwach glühender Nase - wurde ein Stellvertreter-Ren ausgewählt und schnell angelernt.
Das löste aber eine Art Kettenreaktion aus… denn nun musste ja der Platz neu besetzt werden, den das vorübergehend beförderte Leitren vorher belegt hatte. Und richtig - am Ende der langen Kette stellte sich plötzlich heraus, dass ein Rentier fehlte.
In diesem Zusammenhang könnte man fragen, wie so etwas denn passieren kann! Man muss doch immer damit rechnen, dass mal jemand ausfällt.
Das stimmt. Aber leider war es so, dass die Personaldecke immer dünner wurde. Durch das Ausscheiden älterer Rentiere waren viele Schlittenplätze frei geworden. Qualifizierte Neueinstellungen waren selten. Denn natürlich konnte nicht jedes x-beliebige Rentier den Schlitten des Weihnachtsmannes oder seiner Helfer ziehen. Ein solcher Schlitten konnte selbstverständlich nur von einem magischen Wesen gezogen werden.
Und Magie wurde auf der Erde immer seltener! Wer glaubt denn heute noch daran, dass der Schlitten des Weihnachtsmannes durch den Abendhimmel fliegt? Gezogen von ebenfalls fliegenden Rentieren? »So ein Quatsch!«, denkst Du? Eben! Genau da liegt das Problem. So wie Du, glauben viele Menschen nicht mehr daran. »Ein Mythos!« »Eine Geschichte, die den Kindern erzählt wird«. Das sind die Sätze, die fallen, wenn über den Weihnachtsmann und seinen schwierigen Job der Geschenkeauslieferung gesprochen wird.
Rentiere benötigen diese Magie jedoch. Denn nur ein Rentier, das als Baby mit ausreichend Magie in Berührung kommt, kann später als magiebegabtes Ren in den Dienst des Weihnachtsmannes eintreten.
All die anderen ziehen weiter durch Taiga und Tundra der nordischen Wälder und haben höchstens einmal die Chance, einen Job beim Film zu erhalten, um dort ein magisches Rentier zu spielen.

Jedenfalls hatte der Weihnachtsmann in diesem Jahr ein Problem. In den vergangenen Jahren hatte er immer gehofft, es möge gutgehen und es war gut gegangen. In diesem Jahr sah das leider anders aus. Es stand fest: Es fehlte ein Rentier.
Er saß Abende lang an seinem Schreibtisch und änderte Flugrouten und verschob Flugzeiten. Er verkürzte Pausen und verlängerte Strecken. Aber wie er es auch drehte und wendete - es blieb dabei. Ohne Ersatzpersonal würden einige Haushalte in diesem Jahr zu Weihnachten nicht beliefert werden.
Seufzend erhob er sich und lenkte seine Schritte in Richtung seines Freundes Rudolph. Sein heutiger Krankenbesuch war längst überfällig. An seinem Schreibtisch hatte er in dem Bemühen, doch noch eine Lösung zu finden, völlig die Zeit vergessen.
Rudolphs Nase flackerte freudig, als er den Weihnachtsmann sah. Als er jedoch die traurigen Augen des Weihnachtsmannes bemerkte, erlosch das fröhliche Flackern sofort.
»Was ist denn los?«, fragte Rudolph besorgt.
Und bevor sich jemand wundert: Natürlich können magische Rentiere sprechen. Wie sollte man auch sonst die gesamte logistische Vorweihnachtsplanung mit ihnen abklären können?
Der Weihnachtsmann wollte Rudolph eigentlich nicht mit seinen Problemen belasten. Er kannte seinen treuesten Mitarbeiter schon lange genug, um zu wissen, dass es an Rudolph ohnehin nagte, dass er zu dieser wichtigsten Zeit des Jahres ausfiel.
Trotzdem musste er mit jemandem reden und niemand erschien ihm hierzu besser geeignet, als sein weihnachtserfahrenes Leitren.
Nachdem er also die ganze Bredouille dargelegt hatte, sah er Rudolph erwartungsvoll an. Er hoffte so sehr, dass sein alter Freund eine Idee hatte, die ihm vielleicht noch nicht gekommen war.
Und die hatte er wirklich - so schlicht und einfach, dass sich der Weihnachtsmann fragte, wieso ihm der Gedanke nicht schon selbst gekommen war. Hilfe von außen musste her!

Die erste Person, die ihm einfiel, war das Christkind. Immerhin arbeitete es im selben Gewerbe.
Eilig verabschiedete er sich von Rudolph, um mit neu erwachter Hoffnung das Christkind zu kontaktieren.
Dort bekam seine Euphorie jedoch schnell einen Dämpfer.
Das Christkind hörte sich seine Sorge zwar mitfühlend an, konnte ihm dann aber auch nicht weiterhelfen.
»Mein lieber Weihnachtsmann, Du weißt doch, ich bin Selbstflieger«, erläuterte es und wedelte bestätigend ein paarmal mit den goldenen Flügeln.
»Ja, ja. Ich weiß«, brummte der Weihnachtsmann, der insgeheim schon immer ein wenig neidisch auf die Flugfähigkeit des Christkindes gewesen war. Das musste sich nie darum kümmern, ob alle Schlitten einsatzbereit und alle Zugtierpositionen besetzt waren.
»Ich dachte vielleicht, Du könntest eines Deiner magischen Helfertiere entbehren?«, fragte der Weihnachtsmann bittend.
»Ausgeschlossen! Wie Du weißt, habe ich einen weitaus geringeren Personalstamm als Du und auch für mich wird es jedes Jahr schwieriger, mit den immer knapper werdenden Personalressourcen zu arbeiten.«
»Was soll ich denn nur machen?«, jammerte der Weihnachtsmann. »Ich kann doch nicht ganze Gebiete ohne Geschenklieferungen lassen. Was soll denn nur aus Weihnachten werden?«
»Frag doch mal bei den Einhörnern! Das sind doch auch magische Wesen! Vielleicht haben die Kapazitäten frei?«
»Das ist eine gute Idee!«
Und wieder fasste der Weihnachtsmann Hoffnung.

Nun ist es so, dass Einhörner eher zurückgezogen leben. Nur selten bekommt man eines zu Gesicht. Der Weihnachtsmann stoppte also die Geschenkeverpackungsabteilung, die Weihnachtsbäckerei und die Wunschzettelsortierer und schickte alle dort tätigen Wichtel in den Wald, um die Einhörner zu finden.

Nach ruhelosen Stunden, in denen der Weihnachtsmann in seinem Büro auf und ab lief und sich in düstersten Farben das kommende Weihnachtsfest ausmalte, meldete sich endlich ein Chef-Einhorn bei ihm. Er stand einem weitläufigen Waldgebiet vor und war damit Anführer einer größeren Einhorngruppe. Die man übrigens nicht als ›Herde‹ bezeichnen durfte. Denn nichts bringt ein Einhorn mehr auf, als auch nur die Andeutung, es könne sich um ein pferdeähnliches Wesen handeln. Ein Einhorn legt Wert darauf, kein Pferd zu sein, ihm nicht einmal zu ähneln und darüber hinaus lebten Einhörner tatsächlich nicht in Herden, sondern weitgehend einzelgängerisch in nur lockeren Verbänden.
Leider lebten sie so in ihrer eigenen Welt, dass sie sich wenig für andere Wesen interessierten. Nicht für deren Sorgen und Nöte und schon gar nicht für Weihnachten.
Der Gedanke, sich vor einen Schlitten spannen zu lassen, war schlechterdings empörend abwegig. Das Chef-Einhorn fühlte sich derartig gekränkt, dass selbst der Weihnachtsmann Mühe hatte, es wieder zu besänftigen. Sein wohlgemeintes »Ho-ho-ho« kam dabei überhaupt nicht gut an, denn das Chef-Einhorn fühlte sich sofort wieder an Westernreiterei erinnert und als Pferd behandelt.
Wutschnaubend tänzelte es vor dem Weihnachtsmann auf und ab und das Horn sprühte geradezu Funken.
Dann drehte es sich wortlos um, und trabte hocherhobenen Hauptes davon.
»Warte doch!«, rief der Weihnachtsmann traurig hinterher. »Es war doch nicht so gemeint. Und ich habe doch auch nicht für mich gefragt, sondern für all die Menschen, denen ich ein schönes Weihnachtsfest bereiten will!«
Nun kann man über Einhörner denken, was man will. Ihre Achillesferse ist Großherzigkeit. Wenn jemand viel Mühe auf sich nimmt, um anderen zu helfen, werden sie weich.
So verlangsamte auch das Chef-Einhorn seine Schritte und wartete, bis der Weihnachtsmann, der ihm schnaufend nachgeeilt war, zu ihm aufschloss.
»Was hast Du Dir denn nur dabei gedacht, uns um so etwas zu bitten?«, fragte das Chef-Einhorn mit mild tadelnder Stimme den armen Weihnachtsmann, der nun recht kleinlaut vor ihm stand.
»Ich wusste nicht, wen ich sonst fragen soll. All meine Rentiere sind im Einsatz, das Christkind hat keine Kapazitäten und ich brauche jemanden, der schnell und kräftig genug ist, um einen Schlitten zu ziehen und über ausreichend Magie verfügt, um mit ihm zu fliegen.«
»Du hast auch Probleme mit schwindender Magie in der Welt, hmm?«
Das Chef-Einhorn blickte jetzt verständnisvoll und mitfühlend auf den Weihnachtsmann, der resigniert nickte.
»Das kenne ich.« Das Chef-Einhorn schaute einen kurzen Moment ähnlich traurig aus, wie der Weihnachtsmann. »Wir treffen nur selten auf Menschen. Aber wenn es mal geschieht, dann sehen sie in uns immer nur weiße Pferde! Pferde!!!«
Empört schnaubte er und tänzelte wieder nervös. Dass er dabei wie ein Lipizzaner der Spanischen Hofreitschule wirkte, sagte ihm der Weihnachtsmann tunlichst nicht.
»Wir müssen wieder mehr Magie in die Welt bringen«, schlussfolgerte der Weihnachtsmann. »Und ich habe auch schon eine Idee!«
Das hatte das Interesse des Einhorns geweckt und er ließ sich den Plan des Weihnachtsmannes erläutern.
» … aber dafür muss ich erst einmal meinen Schlitten wieder in die Luft bekommen!«, beendete der Weihnachtsmann seine Ausführungen.
Das Einhorn überlegte einen Augenblick. »Es ist komplett ausgeschlossen, dass irgendein Einhorn dieser Welt sich vor einen Schlitten spannen lassen würde. Nicht einmal, um die Magie zu retten. Es würde unseren Zauber sofort zerstören.
Aber ich kenne jemanden, der perfekt zu Dir passt … ein weit entfernter Cousin sozusagen: magisch, in der Lage, einen Schlitten zu ziehen, flugfähig und, soweit man den alten Geschichten glauben darf auch willens, den Menschen zu helfen. Da wäre nur ein Problem?«
»Nämlich welches?«
»Kannst Du altgriechisch?«
Und da der Weihnachtsmann ein sehr gebildeter Mann ist, und natürlich altgriechisch beherrscht, konnte er sich problemlos mit seinem neuen Helfer verständigen, der bereitwillig seine Unterstützung zusicherte. Und so war die Schlittenflotte pünktlich zum Weihnachtsabend vollständig und startklar.
Im Sinne seines Planes verzichtete der Weihnachtsmann in diesem Jahr bewusst darauf, die Schlitten mit einem Unsichtbarkeitszauber zu belegen.
Und so kam es, dass am Weihnachtsabend auf unzähligen Radarschirmen schlittenförmige Flugobjekte zu sehen waren.
Und einer der Schlitten wurde von Pegasus gezogen, der mühelos mit den Rentieren zusammen über den Wolkenteppich galoppierte und einen großen Schlitten, der mit einem Geschenkberg beladen war, hinter sich herzog.
Die Menschen erkannten, was sie dort sahen und einige konnten die Schlitten sogar mit bloßem Auge entdecken, während andere ihre Ferngläser und Teleskope eilig aus den Schränken holten. Ein Strahlen schlich sich selbst in die Gesichter der allergrößten Weihnachtsmannzweifler und es lag plötzlich wieder so viel Magie in der Luft, dass man vermutlich sogar ein Einhorn wieder als solches erkannt hätte. Aber das war ja längst wieder in den Tiefen des Waldes verschwunden.

Frohe Weihnachten!

© Rana

Kommentare? Immer her damit! :-)

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